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Der neue Blick aufs alte Leben

26.03.2021

Letztens trafen mich während des Workshops »Mein kreatives Familienbuch« zwei erstaunliche Erkenntnisse. Diesen Tagesevent hielten wir für eine (coronageschuldet sehr kleinen) Gruppe im Haus der Familienbiografin Mechthild Batzke am Niederrhein ab. Meine Co-Moderatorin, eine kluge Frau und begnadete Tarte-Bäckerin, und ich hatten eine Menge Materialien und Inspirationen zum Gestalten eines leeren Notizbuches für jede Teilnehmerin parat. Erfrischt von regelmäßigen Stößen klarer Märzluft, vertieften sich die vier am großen Holztisch in das Anfertigen ihrer Unikate.

Eine Teilnehmerin ging dabei sehr interessant vor: Sie klebte einige alte Familienfotos in ihr Buch und schrieb dann aus der Sicht derjenigen, die auf dem Bild zu sehen waren, fiktive Briefe. Auf einer Abbildung hielt beispielsweise die Großmutter ihre frischgeborene Tochter, die Mutter, in den Armen. Die Teilnehmerin schrieb einen liebevollen Text aus Sicht ihrer Großmutter an den, gerade als Soldat an der Front dienenden Großvater und berichtete darin begeistert vom gemeinsamen Baby. Statt Dramatik oder Trauer rückte sie so das Gute ins Licht der Erinnerung.

Eine andere Teilnehmerin, die ihren Vater verlor als sie fünf Jahre alt war, klebte Fotos, Zeitungsschnipsel und Stoffreste ein und gestaltete mehrere fröhliche Glitter-Seiten in warmen Farben, auf denen die glücklichen Zeiten mit ihren Eltern - denn auch die gab es und sie suchte in den Gesichtern auf den Fotografien nach »Beweisen« für Liebe und Freude - gefeiert und gewürdigt wurden.

Durch die haptische Beschäftigung veränderten die Frauen das Narrativ aktiv zum Positiven und modifizierten und weiteten ihre Sicht auf das Gestern. Ein »echtes« Zeugnis anzufertigen, war offensichtlich viel machtvoller als nur dazusitzen und zu denken. Dabei ging es in diesem Prozess keinesfalls um ein Leugnen und Sichselbstbelügen, sondern um eine Neuerzählung und ein Würdigen des »Ja, auch das!«

Erkenntnis Nr. 1: Über das Schreiben zu alten Fotos können wir uns nicht nur besser oder überhaupt in unsere Familienmitglieder einfühlen, sondern damit auch schmerzhafte oder negativ konnotierte Erinnerungen für uns umdeuten. Der Gedanke »vielleicht war es auch schön« reichert die Vorstellung an und vermittelt hier ein tröstliches Gefühl.

Erkenntnis Nr. 2: So wie wir uns mit einer optimistischen Vision quasi aus der Zukunft Kraft für die Gegenwart holen, so können wir das auch mit einer Neudeutung unserer Vergangenheit tun. Über die erzählen wir nämlich fast alle immer die gleichen, manchmal traurigen Geschichten. Mit dem Schreiben zu alten Fotos können wir die Ereignisse in unseren Familien und unsere eigenen Rollen neu denken und vielleicht sogar »befrieden«. Auf diese Weise werfen wir einen frischen Blick auf etwas Altes und verändern unsere Haltung und unser Gefühl zum Guten. Cool, oder?



Von Vera Anders, die im Rheinland lebt und dort sprachlich und kreativ unterwegs ist.